Mittwoch, 15. Juni 2011

Tangentialbestimmungen

Eigentlich dachte ich ja immer, dass mit zunehmendem Alter eine gesteigerte Zen-Affinität zu verzeichnen sei. Will heißen: Von Natur aus nicht gerade mit viel Geduld gesegnet, hatte ich gehofft, mit den Jahren nicht nur an Weisheit, sondern auch an Leidensfähigkeit zu gewinnen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Oder liegt es an der Extremität meines Exillebens, zwischen zwei Kulturen, immer als Außenseiter, dass ich so gar nicht zum "ommmmmmm" komme?

Gestern wieder so ein Fall. Nun mal ganz und gar davon abgesehen, dass mich einer meiner bereits hier einschlägig bekannten Verbindlichkeitsverachter erneut nach Zusage zu einem Treffen versetzt hatte - in diesem Fall erreiche ich dank ständiger Übung nun doch langsam den Punkt "ey, is mir doch egal" - meine Geduld wurde doch stark auf die Probe gestellt.

Bei der Veranstaltung handelte es sich um einen Fotografie-Workshop zum Thema Portraitbeleuchtung, gesponsort von einem namhaften Foto-Leuchten-Hersteller und abgehalten in den Ausstellungsräumen eines Fotografie-Equipment-Showrooms in einem Dubliner Industriegebiet. Dass sich der Beginn um eine halbe Stunde verzögerte, konnte ich angesichts der kostenlos zur Verfügung gestellten Kekse und des Tees ja noch verschmerzen - obwohl ich bei der Anfahrt gewohnt pünktlichkeitsfanatisch bereits ins Schwitzen gekommen war, dachte ich doch, dass ich zu spät komme. Und das kann ich für mich ja ü-ber-haupt nicht ertragen.

Doch mit fortschreitendem Seminar verspürte ich zunehmende Unruhe. Der vortragende Fotograf - zwar extrem erfahren und kompetent, eloquent und witzig - begann zielgerichtet, uns mit dem entsprechenden Material vertraut zu machen. Und geriet dann auf die schiefe Bahn Tangente. Neben Döntjes aus der eigenen Berufspraxis, Geschichten aus seiner Schulzeit vor einem halben Jahrhundert und Schimpftiraden auf höllische Bräute, die einen Hochzeitsfotografen an den Rand des Wahnsinns bringen, geriet das eigentliche Thema des Workshops in den Hintergrund. Nicht dass wir uns falsch verstehen - ich liebe Anekdoten und Geschichten, mitten aus dem Leben gegriffen. Aber nicht, wenn ich weiß, dass ich wegen verspäteten Endes um 17 Uhr mitten im feierabendlichen Dauerstau stehen werde.

Da sind die Iren dann doch wesentlich toleranter als ich. Während ich ab offiziellem Ende des Seminars alle 30 Sekunden drei Minuten ungeduldig die Uhrzeit kontrollierte - Wink mit dem Zaunpfahl - hörten die anderen Seminarteilnehmer geduldigst zu - und stellten noch die Veranstaltung unnötig verlängernde interessierte Fragen. *graaaaaaaaaah* Endlich war eine Dreiviertelstunde nach offiziellem Ende alles vorgemacht und gesagt, und der Seminarleiter schloss die Veranstaltung - da stellte sich der gastgebende Showroom-Fritze vor die versammelte Mannschaft. Ok, die zwei Minuten für das jetzt folgende Verkaufsgespräch hätte ich ihm ja auch noch von Herzen gegönnt. Stattdessen setzte der Mann aber zu einem viertelstündigen Motivationsgespräch für Hobbyfotografen an. "Sie müssen nur auf sich selbst vertrauen. You can do it!"

Yes, you can do it - erlöse uns von dem Diktat der tangentialbestimmten Workshop-Planlosigkeit! Kostenlose Seminare bitte gerne - aber geht's denn auch mit einem Plan und ohne ständige Abweichung vom Thema? Damit wäre allen gedient, denn nicht jeder, der sich einen Nachmittag für eine Veranstaltung freinimmt, erwartet ein "open end", sondern hat weitere Termine wahrzunehmen. Das gilt doch eigentlich auch für Seminarleiter, oder?

Ich bin einfach zu deutsch pünktlichkeitshörig...

3 Kommentare:

  1. Ich kann hier nur zustimmend nicken... Ich bin meistens auch einfach zu pünktlichkeitshörig... Merke das immer wieder...

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  2. Völlig bescheuert, ich weiß. Was dabei für Energie verschwendet wird!! Zum Einen beim obsessiven Erreichen jedweden Termins, zum Anderen beim Ärgern, wenn andere es mit der Zeit nicht genauso genau nehmen... Braucht wohl noch mal zehn Jahre, bis ich das raus habe.

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  3. Oha, beim Thema Pünktlichkeit in Verbindung mit Spaniern merke ich immer wieder wie "Deutsch" ich doch bin. Nicht, dass Deutsche nicht auch unpünktlich sein können, aber Spanier die pünktlich sind, gibt es glaube ich noch weniger;)

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