Sonntag, 28. April 2013

Nur in Irland

Schon erstaunlich, wie stark man vom Umfeld seiner Kindheit geprägt ist. Eine Kindheit und Jugend in Kleinstadt-Deutschland - das bedeutete Erziehung zur Ordentlichkeit, zur Rücksichtnahme auf die Nachbarn, zum verantwortungsvollen Umgang mit Vorschriften und zum Rundum-Funktionieren  innerhalb einer strikt geregelten Gesellschaft. In Irland stößt meine Sozialisation gelegentlich an ihre Grenzen. "Das gibt's auch nur in Irland" ist so ein Spruch, der mir auch nach 13 Jahren immer noch gelegentlich mal durch den Kopf geht. In den nächsten Wochen erscheint dementsprechend hier der ultimative Irland-Führer zu den marginalsten Schrullen der Nation. Dieser erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, darf laufend vervollständigt werden und ist ausschließlich als subjektiver Eindruck *einer* Deutschen in *ihrem* Irland zu verstehen. (Für weitere Beispiele aus dem Erfahrungshorizont meiner Leserschaft bin ich jederzeit dankbar! Stichworte bitte per Kommentar hinterlassen!)

Zum Beispiel die Allgegenwart des Nachtschattengewächses. Dazu präsentiere ich Beweisstück A, das ich bei einem kürzlichen Kurzurlaub in einer auch von Einheimischen gut besuchten Hotelbar, ablichtete.

Die Kartoffel des Tages. Man sieht sie geradezu vor sich: die Knollenfrucht, gehüllt in ihre bescheidene erdbraune Robe. Nicht die Schönheit des Pfirsichs, die Anmut der Rose, die kecke Schlankheit einer Banane, nein, Demut prägt die in der Dunkelheit des Erdreichs verschämt herangewachsene Kartoffel. Genügsam, züchtig und prunklos widmet sie sich nur einem - dem Wachstum. Brutal dem Erdboden entrissen wird sie der Ausbeutung durch die Menschheit ausgesetzt. Und wer dankt es ihr? Keiner. Dabei ist die Kartoffel die Krone der menschlichen Nahrungskette.

Jedenfalls in Irland. Die Iren lieben ihre Kartoffel. Und auch wenn ich bei dem Titel "Kartoffel des Tages" spontan an die zur Motivation von lustlosen Mitarbeitern in US-amerikanischen Hamburger-Brätereien ausgestellten Verbrechergalerien Angestelltenfotos denke, ist für den irischen Leser einer Speisekarte die Notwendigkeit eines täglich wechselnden Kartoffelgerichts unabdingbar. Kartoffeln gibt es gebraten, gebacken, gekocht, als Brei, in, mit und ohne Schale, zum Frühstück, Mittagessen und Dinner, frittiert und tiefkühlgetrocknet, als Chips, als Fries, als Wedges, als Schalen - ja, selbst zu einem bereits stark stärkehaltigen Nudelgericht passt noch eine Portion Beilagenkartoffeln. Die Kartoffel liegt den Iren im Blut. So stark sogar, dass möglicherweise die in Irland wesentlich häufiger vorkommende Glutenunverträglichkeit auf die ausschließliche Ernährung mit Kartoffeln im 19. Jahrhundert zurückzuführen ist.

Wo die Neuseeländer die Kiwifrucht als nationales Symbol haben und die Waliser sich mit einem Lauch schmücken, sollte auch Irland sich eine Frucht aufs Banner kleben. Ich plädiere für die Kartoffel, steht sie doch mit ihrem schlichten Gewand für die außerordentliche Bescheidenheit der Iren, mit ihren ökotrophologischen Besonderheiten für die irische Findigkeit und mit ihrer Verbreitung auf der ganzen Welt für die sprießende Diaspora Irlands. Tolle Knolle!

3 Kommentare:

  1. Bei uns in der Kantine gibt es ab und zu Potato Cubes zu Cottage Pie...

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  2. Ha, das ist genau das, was ich meine. Doppelter Stärkeangriff. Guten Appetit!

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  3. Josh Ritter (nach wie vor aus dem Staat der berühmten Kartoffeln) eines schönen Abends im Vicar Street:

    "We have a relationship based on complex carbohydrates."

    Beautiful! *G*

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