Freitag, 26. April 2013

Kriegsführung auf dem Gehsteig

Der irische Bürgersteig bei Regen. Das ist Überlebenstraining in Echtzeit und unter realistischen Bedingungen. Gerade meinen Lesern, die noch nie in Irland waren, aber eventuell eine Reise in dieses schöne Land planen, möchte ich damit einen praktischen Ratgeber an die Hand geben, der böse Überraschungen bereits im Vorfeld ausschließen soll. Denn an Regen kommt ihr in Irland nicht vorbei. Damit kann man sich - entsprechend mit Gummistiefeln, Sympatex-Regenkleidung und Knirps ausgerüstet - arrangieren. Doch was der Irland-Unkundige nicht im Voraus abschätzen kann, ist der Überlebenskampf, der einen auf irischen Gehwegen bei Regen erwartet.
Dank wirtschaftlichem Aufschwung und der universellen Erhältlichkeit von in indischen Ausbeutungsbetrieben gefertigten Billig-Schirmen besitzen die Iren heutzutage alle auch einen Regenschirm. Vorbei die Zeiten, als man in den 80er Jahren noch schirmlos dem Regen begegnen musste. Ach, was waren das für schöne, alte Zeiten. Denn heute spielt sich der Klassenkampf unbarmherzig auf den Bürgersteigen ab. Bevorzugte Waffe ist dabei der Regenschirm.

Die irische Mittelklasse stattet sich dazu mit den absichtlich harmlos benannten Golfschirmen aus. Dabei handelt es sich um Regenschirme, unter die mindestens zwei, aber bis zu 25 Fußgänger passen. In seiner Spannweite in der Regel einem Sonnenschirm gleich, stellen die Golfschirmträger dabei die Panzer des Niederschlagkriegs dar. Wer sich auf einem Gehweg mit einem Golfschirm konfrontiert sieht, kann einpacken. Gnadenlos drängen die Golfschirmträger das restliche Fußvolk vom Gehweg. In der freien Wildbahn gilt das Recht des Stärkeren - und das ist zweifellos der Golfschirmträger. Immerhin ist die Trefferquote des Golfschirms jedoch schlecht: Nur jedes zehnte Opfer wird beim Ausweichen auf die Fahrbahn gerade mal von einem zufällig vorbeifahrenden Bus erfasst.

Die Guerillas des Gehwegs sind die Knirpsträger der Arbeiterklasse. Und zwar jene, die sich unter dem Mantel der etwas gedankenlosen Exzentrik besonders scharf bewaffnet haben - mit einem kaputten Knirps. Diese zeichnen sich in der Regel dadurch aus, mit besonders scharfen Waffen den Kampf um die Idealroute im Großstadtdschungel aufzunehmen. Charakteristisch ist hier die Bewaffnung mit Billigknirpsen, die durch den Einsatz im Sturm ursprünglich unschädlich gemacht worden waren. Mit freigelegten Rippen und hervorstehenden Metallspitzen, wo das Schirmmaterial von den Schirmrippen abgerissen ist, pirschen sich die Guerillas von hinten an ihre Opfer heran. Ihre Taktik besteht zum einen in der außerordentlichen Wendigkeit dank einer geringeren Spannweite als die Golfschirmträger, zum anderen in der Traghöhe des Knirpses, die dank Anwinkelung leicht auf die Augenhöhe der Gegner angepasst werden kann. Das Tragen von Brillen ist angesichts der Knirpsguerilleria stark zu empfehlen. Ansonsten empfiehlt es sich, bereits vor dem Irlandurlaub einen Termin in der Augenklinik ihrer Wahl auszumachen.

Besonders perfide ist jedoch die Kooperation der Panzereinheiten und der Guerilla im gemeinsamen Zangengriff gegen die Oberklasse. Entgegen internationalen Abkommen betreiben die beiden Kampftruppen unbemannte Angriffe. Dazu hinterlassen Selbstmordkommandos bei Rückzügen oder im Fall von beschädigtem Kriegsgerät ihre Waffen in speziell bereit gestellten Tonnen, die überall in den Städten an strategisch wichtigen Punkten auf dem Gehweg platziert sind (in Friedenszeiten, also bei Sonnenschein, werden diese übrigens regelmäßig als Papierkörbe missbraucht) und von dort nichtsahnende Passanten angreifen, indem sie ihre gebrochenen Rippen in den Fußgängerstrom strecken und die Fußgänger in ihrem Fortkommen hindern  Darüber hinaus ist in den letzten Jahren auch der zunehmende Einsatz von Landminen zu verzeichnen. Dabei handelt es sich um entsorgte Knirpse, die - oft in der Nähe der Tonnen - den Gehweg zu einem gefährlichen Parcours machen. Wer hier nicht seine Sinne beisammen hat und die weggeworfenen Knirpse im Blick behält, kann leicht zu Fall gebracht werden!

Das einzig Gute in diesem Szenario: Der Gehwegklassenkampf dauert nie lange. Sobald die Sonne wieder herauskommt, werden die Kampfhandlungen eingestellt, und die Teilnehmer des Füßgängerverkehrs feiern Versöhnung. Als Besucher richtet man sich am besten auf alle Eventualitäten ein. Oder bleibt bei Regen lieber im Trockenen.

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