Dienstag, 29. März 2011

Bahnfahren in Deutschland

Von meinem Heimaturlaub zurückgekehrt, fragte mich letzte Woche ein irischer Freund: "Und, wie hat dich das deutsche Vaterland behandelt?" "Gut", sagte ich, "aber leben kann ich da nicht mehr!" Bevor meine in Deutschland lebenden LeserInnen jetzt aufschreien - nein, das ist nicht persönlich gemeint. Wahrscheinlich sagt es mehr aus über mich als über Deutschland. Ich bin das Leben in Deutschland einfach nicht mehr gewöhnt. Und der letzte Tag im Vaterland machte mir das wieder einmal deutlich.

Bahnfahren in Deutschland - das ist etwas für Adrenalin-Junkies. Darüber war ich mir bereits im Klaren, als ich in Eisenach den ICE in Richtung Frankfurt/Main Flughafen bestieg. Je nach Strecke fahren die deutschen Hochgeschwindigkeitszüge bis 330 km/h schnell. Dolle Sache - da ist der Speed-Freak schnell auf Adrenalin 150. Mich lässt das kalt (Adrenalin 30). Aber was mich beim Bahnfahren in Deutschland immer und garantiert aufregt, ist das Theater um die Sitzreservierung.

Sonja betritt Wagen 21 des ICEs, auf der Suche nach dem reservierten Sitzplatz 87. Der Laden ist brechend voll - und das mittwochmittags. Ah, da ist ja mein Platz - Gangseite, mit Tisch. Und besetzt von einem älteren Herren. Daneben eine mittelalterliche Dame im mittleren Lebensalter, gegenüber zwei junge Männer. Ich wende mich freundlich lächelnd und höflich fragend an den auf Platz 87 sitzenden Herren: "Guten Tag, ich suche Platz 87, könnte das wohl hier sein? Bin ich in Wagen 21?" (Böse Erfahrungen in der in grauer Vorzeit zurückliegenden Vergangenheit haben mich gelehrt, dass man mit Dümmlichkeit in dieser Situation am besten davon kommt.) Der Herr blickt mich hocherstaunt und böse an. Ich lese ihm förmlich aus seiner Stirnfalte ab, dass ich ihm gerade noch gefehlt habe. "Ja!", bellt der freundliche Landsmann. "Das ist hier. Aber mein reservierter Platz ist da gegenüber, deswegen sitze ich hier." Ich sage erstmal gar nichts und lasse der sich anbahnenden Szenerie den freien Lauf. Die beiden jungen Männer auf Platz 86 und 84 gucken mich ebenfalls böse an. "Blöde Kuh", denken die wahrscheinlich. Wortlos, aber mit deutlich sprechender Miene raffen die beiden Jungspunte ihre Klamotten zusammen, zwängen sich an Tischkante und "blöder Kuh" vorbei und ziehen muffig ab. "Tja, wer nicht reserviert, verliert", denke ich lakonisch und werde indessen gewahr, wie auch der "versetzte" Herr geschäftig an seinem Platz herumrödelt. Es muss ja alles seine Ordnung haben - er will nun seinen ihm dank Reserviergebühr von € 2,50 gesetzlich zustehenden Sitzplatz Nummer 86 einnehmen, den die Jungmänner geräumt haben. Ich denke mir, ich tue ihm was Gutes und winke ab: "Ach, bleiben Sie ruhig sitzen! Ich setze mich hier her, dann haben nur wir beide die Plätze getauscht." Pustekuchen - meine Freundlichkeit wird mit einem Grunzen quittiert - kein freundliches "Immer nur die Ruhe behalten, wir machen das unter uns aus", sondern eine entnervte Miene wird mir geschenkt. Leicht entmutigt zwinkere ich der Dame am Tisch zu und zucke mit den Achseln, in Erwartung weiblicher Solidarität, vielleicht. Nix da. Die Dame - wohl doch eher ältlich als mittelalt *bätsch* stöhnt hörbar auf - so ein Terror an ihrem Tisch. Neue Leute bringen immer Ärger, spricht ihr Blick. Bäng. Und schon ist mein Adrenalin dann doch bei 150.
Muss das so sein? Kann man sich nicht auch unter Fremden mit Freundlichkeit und Lockerheit begegnen? Dieser "Stress der Ordnung", ich komme damit nicht mehr klar. Mir ist schleierhaft, wie ich jemals damit zurecht gekommen bin. War ich genauso? Schließlich war ich in meiner Studentenzeit regelmäßige Bahnfahrerin der ICE-Strecke Würzburg-Hannover-Bremen.

Nur ein kleines Schlaglicht - ich finde es aber symptomatisch. Sowohl für meine eigene Veränderung als auch für mein Deutschlanderlebnis. Und daher gilt: Für Besuch immer gerne nach Deutschland. Aber in Zukunft nur bei Direktabholung am Flughafen ;-)

6 Kommentare:

  1. Naja, hat schon seinen Grund, dass Telekom (und was es da sonst noch gibt)und Die Bahn DIE Eisbrecher-Themen auf langweiligen Firmen- und Familienfeiern sind - jeder ist mal umgezogen und hatte dann wochenlang kein Telefon und Internet mehr, und jeder fährt mal Bahn und trifft dann so nette Leute ... hat das Thema "Wetter" eigentlich inzwischen ersetzt - was sagt das jetzt aus über uns???

    AntwortenLöschen
  2. Ich würde mal sagen die Zustände in Deutschen Bahnen sorgen bei jedem dafür, dass man einen Adrenalinwert von 200 hat. Den erreicht man schon, wenn man sich in den Wartegriff-freien ICEs zu seinem Platz gequält hat. Inklusive 20 blauer Flecken weil 200 Koffer im Weg stehen, die man nirgends platzieren kann. Selbst die irische Eisenbahn dürfte da besser sein, auch wenn ich die vor 20 Jahren das letzte Mal benutzt habe.

    AntwortenLöschen
  3. @ Nicole: Haha, so isses, die Bahn, das Small Talk-Thema Nummer 1. *ähem* hat dich der Beitrag gelangweilt...? ;-)

    @ Anonym (hehe, ich weiß schon wer...) - so ähnlich ging's mir natürlich auch. Vielleicht waren die Jungspunte auch deswegen so genervt von mir, weil ich den auf dem Gangplatz sitzenden vorher in der Zugkurve dezent mit unfreiwilligem Niederlassen auf seinem Schoß zerquetscht hatte...

    AntwortenLöschen
  4. Hm...

    Rückflug Dublin - München.
    Freue mich, denn ich habe einen Fensterplatz. Leider ist der und der daneben besetzt. Kein Problem, denke ich, ich hab ja eine Sitzplatzzuweisung und zeige die vor. Seitens der auf den Plätzen sitzenden irischen Männer ernte ich jedoch nur ein Kopfschütteln und Ablehnung. Da ich ein friedlicher Mensch bin, nehme ich den leeren Platz am Gang. Dennoch, ein kleiner Ärger nagt schon an mir, an dem Tag hätte sich der Fensterplatz gelohnt.

    Daheim erzähle ich es meiner Tochter. Sie sagt nur "Kenne ich" - als sie ausnahmsweise auch mal einen Fensterplatz hatte (sie ist leidenschaftliche Fotografin) wurden die Plätze von einer Familie auf zwei Bankreihen eingenommen, vorne Kind mit Vater, in ihrer Reihe Kind mit Mutter - eine irische Familie auf Urlaubsreise. Die Mutter sagt, ach bitte, lass das Kind doch am Fenster sitzen, es ist noch nie geflogen. Also nimmt die Tochter den Platz am Gang. Und schaut zu, wie die ganze Familie den gesamten Flug verschläft...

    AntwortenLöschen
  5. Hahaha, typische Geschichte, Sigrid. Wir sind da eben doch deutsch - das muss seine Richtigkeit haben.

    AntwortenLöschen
  6. Sonja, du kennst unsere Eisenbahn nicht. Da ist nichts mit ICE und Hochgeschwindigkeit. Immerhin fährt aber auf der Hauptstrecke dreimal täglich ein IC, der auch auf unserem Bahnhof hält. Bei meinem letzten Besuch in Deutschland im vergangenen Jahr habe ich das Reisen im ICE genossen. Selbstverständlich auch mit Platzkartenreservierung. Als unser ICE von Dresden nach Frankfurt/Main ausfiel, wurden uns anstandslos unsere Platzkarten auf den nächsten ICE umgebucht. Also hier hätte ich zumindest die neuen Platzkarten bezahlen müssen, wenn ich überhaupt noch welche bekommen hätte. Von hier aus gesehen ist die Deutsche Bahn gar nicht so schlecht. Es kommt wohl immer auf den Blickwinkel an.

    AntwortenLöschen