Donnerstag, 26. April 2012

Päpstlicher als der Papst

Weia, zehn Tage, seitdem ich zuletzt geschrieben habe. Das auslaufende Semester fordert Tribut - meine Kreativität erschöpft sich derzeit in visueller Verausgabung. Da fehlen mir die Worte - und auch die Themen - um meine verehrte Leserschaft mit brillianten Beobachtungen aus der westeuropäischen Randlage zu unterhalten.
Dabei denke ich dieser Tage viel über Irland nach. Anlass dazu gibt es jeden Tag, denn unser Asylgast ist immer noch bei uns, und ich erfahre viel über das Leben eines Asylbewerbers in Irland. Mir wird dabei immer mehr bewusst, wie stark unsere eigene Erfahrung die Sicht auf die Realität trübt beeinflusst.
Wer die [West]Randbemerkungen regelmäßig liest, weiß, dass ich diesem Land mit Haut und Haaren verfallen bin. Ich liebe nicht nur die Naturschönheit Irlands, seine reiche Literatur- und Musikgeschichte, die Nähe des Meeres und die Freundlichkeit und Offenheit der Iren, sondern ich habe mich auch mit den Unzulänglichkeiten des Landes arrangiert. Ich bin freiwillig hier. Und das gerne.
Das trübt meine Sicht der Dinge - genauso wie auch die Tatsache, dass F___, unser Asylgast, nicht freiwillig in Irland ist, seine Sicht der Dinge beeinflusst.
An nichts lässt F___ ein gutes Haar: Irisches Essen? Zu fett. Total ungesund! Das irische Rechtssystem? Hat von Menschenrechten noch nie etwas gehört! Irische Musik? Grauenvolles Gedudel! Die Iren an sich: Unehrliche Pfuscher! Irische Politik? Rassistisch motivierter Kinderkram! Das irische Bildungssystem? Die ham doch keine Ahnung von nichts hier! Wetter in Irland? Scheixe!
Auch wenn ich die Motivation hinter F___'s Meinung durchschaue, regt sich Widerstand in mir. Und ich werde plötzlich irischer als die Iren und finde mich in der Rolle der Verteidigerin meines Gastgeberlandes. Denn es ist schließlich so: Mit jeder Kritik an meiner selbst gewählten Heimat fühle ich auch mich selbst kritisiert. Denn ich bin nicht unfreiwillig hier, sondern habe mir genau dieses Land als meinen Wohnsitz gewählt. Vielleicht nehme ich alles zu persönlich. Vielleicht bin ich auch zu harmoniebedürftig - es fällt mir schwer, mit anderen geteilter Meinung zu sein. Tief in mir drin empfinde ich Dankbarkeit, dass die Iren mich in ihrem Land so freundlich aufgenommen haben.
Genau dort liegt der Knackpunkt: Mich haben die Iren freundlich aufgenommen. Ich bin integriert und lebe hier mit (fast) denselben Rechten und Pflichten wie die Iren. Dazu habe ich auch die richtige Haut- und Haarfarbe, den passenden Klassen- und Bildungsstatus und eine zuträgliche Integrationswilligkeit. Was wäre, wenn mich das Leben hierher zwangsversetzt hätte und ich äußerlich aus der Masse hervorstechen würde, so wie mein Asylgast? Das Wetter wäre schlechter, das Essen fetter und die Menschen unfreundlicher!
Ändern kann ich die Lage für F___ nicht. Er muss seinen Frieden mit seinem (hoffentlich) transitorischen Asylstatus selber machen. Ich kann nur hoffen, dass er irgendwann genauso wie ich die guten Seiten Irlands sehen und genießen kann.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen